Kurzgeschichten auf Deutsch

VERKLEIDUNG

Sergio Gaut vel Hartman

Argentinien

Er war abgelenkt, mit seinen Gedanken verloren im Labyrinth eines frischen Schmerzes. Deswegen schenkte er dem Auftauchen des Bettlers im Waggon keine Beachtung, während dieser seine Frasen stammelte.

—Mich schickt niemand; ich bitte für mich. Für mich, bitte. Ich hatte einen Unfall; ich brauche Ihre Hilfe. Eine Münze bitte.— Die Worte fanden nur schwer ihren Weg, weswegen es dauerte bis er die Forderung mit der voluminösen Gestalt, die durch den Gang im Rhytmus des Zuges wankte, in Verbindung brachte. —Mich schickt niemand; ich bitte für mich. Für mich, bitte. Ich hatte einen Unfall; ich brauche Ihre Hilfe. Eine Münze bitte.—

Komisch, sagte er sich, irgendetwas stimmt nicht. Er beobachtete die Augen des Bettlers und nahm einen Unordnung wahr, und zwar zwischen dem Spruch, der sich wiederholte wie ein Singsang, und andererseits den Gesten mit denen der Mann sein Umfeld registrierte. Es war etwas später als 6 Uhr nachmittags, Stossverkehr. Der Waggon war gefüllt mit Leuten die nach Hause zurückkehrten, in die Vorstädte. Aber der Bettler bewegte sich als ob der Zug leer wäre. Er lügt, dachte er; er spielt etwas vor, klarerweise interpretiert er die Rolle einer Person, die speziell zum betteln geschaffen wurde. Abgesehen davon das dies nicht das Wissen seriöser Studien, sondern des Volksmundes ist, weiss man das viele Personen mit derselben Profesionalität als Bettler arbeiten, mit der andere Uhren reparieren oder Möbel restaurieren. Er beschloss, das es sich nicht lohnte sich mit solch unfreundlichen Reflexionen zu quälen (inclemente). Er suchte einige Münzen heraus und bereitete sich darauf vor sie ihm zu geben wenn er sich näherte.

Die ganze Sache hätte hier beendet sein können, wenn dem Bettler nicht ein Ausruf herausgschlüpft wäre, sicherlich weil jemand ihm Falschgeld gegeben hatte. Nicht der Schrei in sich überraschte ihn, noch nicht mal wenn sie in einer fremden Sprache ausgerufen worden wäre. Die Überraschung war, das für einen Augenblick, einen winzigen Bruchteil einer Sekunde, der Bettler am Rande der Wahrnehmung oszillierte und dabei zeigte, das unter der menschlichen Hülle sich ein Artefakt versteckte, oder etwas Nichthumanes das als solches erschien. Er rieb sich die Augen, verwirrt, als ob es logisch wäre das es sich um eine optische Täuschung handeln müsste. Als der Bettler sich ihm näherte, versuchte er irgendein Indiz dafür zu finden, das klarlegen könnte was für ein Natur sich in diesem Betler versteckte, aber er sah nur einen dicklichen Mann, sehr zerstört durch einen schweren Schlaganfall; er zog das linke Bein nach und der linke Arm hing herab wie ein Stück totes Fleisch. Die Schwierigkeiten der klaren Ausprache wurden dadurch vertuscht, das er immer denselben Spruch wiederholte, wobei ihm allerdings bei dem Wort "Unfall" die Stimme ein wenig zitterte. Er gab ihm die vorbereiteten Münzen. Der Bettler blieb stehen und sagte: —Gott sei mit dir und auf das er dir das doppelte zurück gibt.— Danach ballte er die Faust, mit einer Bewegung die zeigte das dieser linke Arm alles andere als Unnütz war, und die Münzen verschwanden. Nicht etwa das er sie in die Tasche gesteckt oder in der Sturmhaube verwahrt hätte, die an seinem Gürtel hing: nein, sie verschwanden. Noch eine optische Täuschung? Er überlegte sich, das er nichts verlor, wenn er sich dem Bettler entgegenstellen würde. Aber dieser hatte ihm schon den Rücken zugewandt, auf seinem Weg durch den vollen Waggon, das Bein nachziehend und mit der an dem schlappen Arm hängenden Hand. Er fragte nicht um Erlaubnis: er schob sich vorwärts zwsichen den Leuten, wie eine Maschine die zu diesem Zweck programmiert worden war.

Eine banale Episode; die auch schon beendet war. Hatte es Sinn noch weiter über das nachzudenken, was er gesehen hatte, diesen vermeindlichen als Bettler verkleideten Artefakt? Eine Maschine die um Almosen bittet. Einfallsreich. Wenn erst einmal die Kosten für das Design und die Konstruktion amortisiert waren, ständen wir vor ein nimmermüden Gewinn—Generator, der 24 Stunden am Tag arbeiten würde, das ganze Jahr, Jahr für Jahr, unermüdlich, effizient. Die Kosten der Instandhaltung wären minimal: Maschinen essen nicht, schlafen nicht, verdienen kein Gehalt, realisieren keine sozialen Proteste, fordern keinen Urlaub, erkranken nicht... Perfekt! Er schob die Idee von sich, weil sie ihm zu phantasievoll vorkam und fiel in seine Melancholie zurück. In Wirklichkeit war es ihm egal, und selbst wenn er Recht hätte, es war ihm egal.

Trotzdem, als der Bettler in den nächsten Waggon wechselte folgte er ihm mit den Blicken. Es gab da eine Übereinstimmung, die zumindest beunruhigend war. Der letzte zu durchgehende Waggon stimmte exakt mit der Ankunft im Zielbahnhof überein. Acht Waggons, sechzehn Stationen. Matematisch exakt; eine dramatische Konzesion an die Symmetrie, die in der Realität immer versucht zu entwischen.

Als er aus dem Zug ausstieg, verlängerte er die Beobachtung indem er sich in einem Abstand von zwanzig Schritt zu dem Bettler hielt. Der Mann (er weigerte sich seine Vision als wirklich anzuerkennen) blieb an der Seite der letzten Türe des letzten Waggons stehen, die sich im Moment der Rückkehr des Zuges zum Startbahnhof automatisch in die erste Tür des ersten Waggons verwandeln würde. Die matematische Präzision der Verhaltensweise dieses Behinderten (se daba cabezas con la logica). Wenn der Eindruck der von seiner Gestalt und seinem Verhalten ausging, einen dazu brachte zu meinen das er gerade so fähig war für sich zu sorgen, die Art in der er seine Arbeit organisierte, führte genau zum Gegenteil. Er glaubte für einen Moment eine Veränderung in der Verhaltensweise zu bemerken, als die neuen Passagiere den Zug betraten, aber er glaubte nicht das sie wichtig sei. Es war genau in diesem Moment, als er beschloss diesem Bettler bis ans Ende der Welt zu folgen, falls dies nötig sein sollte. Er hate nichts wichtiges zu tun, niemand erwartete ihn, und auf jeden Fall würde es ihm guttun sich auf eine neue Sache zu konzentrieren, auch wenn diese eine Illusion wäre, eine komplette Lächerlichkeit.

Der Zug würde jeden Moment losfahren, und in letzter Sekunde betrat der Bettler ihn, was dazu führte das er, in seinen Gedanken versunken, rennen musste um ihn nicht zu verlieren. Nur die spontane Hilfe jemandens, der die automatische Türe blockierte, ermöglichte es ihm einzusteigen, bevor der Zug losfuhr.

Einmal drinnen und ohne Möglichkeiten noch einen Sitzplatz zu erreichen, bückte er sich um nicht aufzufallen und beobachtete aufmerkam das Verhalten des Bettlers.

—Mich schickt niemand; ich bitte für mich. Für mich, bitte. Ich hatte einen Unfall; ich brauche Ihre Hilfe. Eine Münze bitte.— Dieselben Worte, dieselbe dunkle Schwankung während des Wortes "Unfall". Mit derselben beneidenswerten Präzision durchlief er den ersten Waggon in der Zeit die der Zug brauchte, um die ersten zwei Stationen hinter sich zu bringen. Während er fühlte, wie in seinem Inneren die Erregung wuchs, erzeugt durch diesen Prozess der Aufklärung eines Geheimnisses, egal wie klein es auch sei, stellte er sich drei oder vier mögliche Erklärungen vor, und einige davon beinhalteten ein gewisses Risiko für seine körperliche Integrität. War er etwa unter dem Einfluss eines Selbstmord—Impulses? Er verdaute die Idee, wenn auch nicht vollkommen. Seine innerliche Wunde war so tief, das sie wohl nie ganz verheilen würde. Aber er war sicher das sein Drang zu lernen jedwedes Pech übertrumfen würde.

Er suchte wiedereinmal den Bettler. Er sah ihn nicht, das stimmte schon. Eigentlich müsste er jetzt im dritten Waggon sein, und falls er in der vorhergesehenen Art und Weise operierte brauchte er sich keine Sorgen zu machen, er würde ihn nicht verlieren. An diesem Punkt angekommen, befiel ihn eine neue Sorge. Falls die Theorie des Artefakts richtig sein sollte, dann würde der Bettler den Zug nie verlassen, oder zumindest nicht den Anfangs— und Zielbahnhof, sich in einer Art von geschlossenem Kreislauf haltend. Sicherlich würde er sich mit der Person in Kontakt setzen, die die Einnahmen in Empfang nehmen würde, aber mehr als diese Tatsache würde er nicht erfahren. Seine eigenen Beschränkungen, wie essen, schlafen und physische Notwendigkeiten würden dazu führen, den Behinderten aus den Augen zu verlieren. Er war hinter einem Gespenst her. Es wäre wohl besser an diesem Punkt aufzugeben, bevor die Besessenheit seinen Willen in Ketten legen würde.

Nichts desto trotz erlaubte er sich einen letzten Versuch. Falls er es schaffte die Untersuchung zu beenden, berücksichtigend das er wusste das sie zu nichts führen würde, und er einen anderen Passagier finden könnte der auch etwas merkwürdiges in dem Verhaten des Bettlers gemerkt hatte, vielleicht würde er dann eine befriedigende Antwort finden ohne weiter suchen zu müssen. Diese Möglichkeit animierte ihn so sehr das er den nächstbesten ansprach.

— Entschuldigen Sie— sagte er zu dem jungen Mann mit dem roten Haar, der die ganze Zeit schon nach einem guten Platz für seinen Rucksack suchte. — Ist ihnen etwas an dem Bettler aufgefallen, der hier vor einem Moment vorbeigekommen ist, dieser dicke mit dem Sprachproblem, der den selben abgehackten Spruch wiederholt?—

Der Junge sah ihn überrascht, schien aber nicht belästigt über die Einmischung, an. — Den sehe ich jeden Tag den ich den Zug benutze, aber er fällt mir schon nicht mehr auf. Was hat er gemacht?—

— Er hat nichts besonderes gemacht. Es ist schwer zu erklären. Du wirst bestimmt glauben ich bin verrückt oder hinter einer komischen Sache her.—

Der Junge zuckte mit den Schultern. — Ich habe sicher schon merkwürdigere Sachen gehört.

— Das einzige was ich habe ist ein Gefühl, einen Geistesblitz. Ich habe etwas sehr merkwürdiges gesehen, als er an mir vorbeiging, vor einem Moment; seitdem bin ich hinter ihm her.—

— Scheint das das nicht mehr so ist, er hat mindestens drei Waggons Vorsprung. —

— Das macht nichts. Ich weiss in jedem Moment wo er ist. Das ist es nicht. Seine Manöver sind wie die einer Maschine. —

— Ein Robot-Bettler? — Der Junge hatte die Idee sofort erkannt. — Hört sich absurd an.—

— Meinst Du? — Der Zug hate sich bei jeder Station mehr gefüllt und die Luft war mittlerweile nicht mehr atembar. Er fragte sich wie der Bettler es schaffte sein Programm durchzuhalten: einen Wagen pro Abschnitt. — Laut meiner Berechnung — fuhr er fort — wird er in der achten Station im letzten Waggon angekommen sein, was ihn dazu zwingt den Zug zurück zu nehmen oder den nächsten der in dieselbe Richtung weiterfährt. —

— Sind sie sich sicher? Schauen sie, ich kenne sie nicht. Sie könnten ein Besessener sein, den es von dieser Seite erwischt hat. Und der Bettler hat mir nichts getan. Muss ich zwischen ihnen beiden wählen?—

— Sie haben Recht, entschuldigen sie.—

— Nein, ist schon in Ordnung. — Der Junge schien gemerkt zu haben das er sich etwas flegelhaft benommen hatte und versuchte sich zu bessern. — Ich heisse Julian; ich fahre diese Strecke jeden Tag.— Er lächelte — Ich studiere im Zentrum, Sozialwissenschaften.—

— Sehr gut! Ich heisse Esteban Gandolfo. Wie du siehst, verliere ich meine Zeit mit diesem Blödsinn.—

— Werden sie ihm weiter folgen? — Er machte eine vage Geste in die Richtung wo sich jetzt der Behinderte aufhalten könnte. In dieser Frage war eine andere implizit eingefügt.

— Ich habe nichts besseres zu tun. Ich bin seit zwei Monaten Wittwer. Wenn ich nach Hause komme setze ich mich auf einen Stuhl schaue stundenlang ins Leere. Manchmal erinnere ich mich, den Fernseher anzuschalten; und dann schaue ich stundenlang Fernsehen als ob ich ins Leere starren würde. Das hier, auch wenn es verrückter ist, scheint interessanter zu sein, meinst Du nicht?—

— Tut mir leid — sagte der Junge, ungemütlich, nicht gewohnt ein Beileid auszusprechen.

— Kein Problem. Ich bitte dich noch einmal um Entschuldigung dich in das hier hereingezogen zu haben.—

Der Junge nahm den Rucksack auf und fing an sich durch die Menge zu schieben die den ganzen Waggon anfüllte. Aber er schaffte nicht mal fünf Schritte.

— Das wird schwierig werden. Er hat das gut einstudiert.—

— Ich glaube es wäre besser, wenn wir ihn in der achten Station abfangen, ausserhalb des Zuges.—

— Wirklich besser, sie können mit mir rechnen.— Es schien, das Julian beschlossen hatte in seinen Gesprächspartner zu vertrauen. Was hatte ihn an diesem Vorschlag bezaubert? Hatte er irgendetwas Interessantes entdeckt oder war es eine dieser Höflichkeiten die in jedem steckt? Esteban fühlte wie eine Welle bewegender Gefühle ihn erfüllte. Wenn man in Betracht zog, das der Bettler einen Abstand von fünf Waggons hatte, blieb ihnen gerade noch Zeit um sich eine Strategie auszudenken. Zwei Stationen, oder richtiger anderthalb.

Deswegen waren sie etwas aus der Reihe, als sie den Bettler zurückkommen sahen, mit Schwierigkeiten vorwärts zu kommen, ausserhalb von Zeit und Ort, seinen monotonen Singsang leiernd.

—Mich schickt niemand; ich bitte für mich. Für mich, bitte. Ich hatte einen Unfall; ich brauche Ihre Hilfe. Eine Münze bitte.—

— Den meinten sie, oder?— fragte Julian.

— Ja, den meinte ich — stimmte Esteban zu. — Aber irgendetwas stimmt nicht. Er dürfte nicht auf dem Rückweg sein. Ich hatte ein Verhalten registriert, ohne Abweichungen, oder zumindest glaubte ich das. Das hier stimmt nicht damit überein.—

— Er kommt vor der achten Station zurück. Ob es ihm aufgefallen ist? Sie haben gesagt, das er bis zur achten Station in eine Richtung geht und danach die Richtung wechselt.—

— Das war eine Hypothese. Es scheint, das sie widerlegt worden ist.—

Der Bettler war nun sehr nah, das Bein nachziehend, der schlenkernde Arm, schlaff, derselbe Spruch, mit seinem Fehltritt in dem Wort "Unfall".

— Ohne Routine, kein Geheimniss — sagte der Junge — Nur ein armer Behinderter, der versucht sich ein paar Münzen zu verdienen.—

— Einen Augenblick! Der Arm.—

— Was ist damit?—

— Es ist der andere.—

Überraschenderweise war eine Frau mit dunkler Haut, langen Augenwimpern und einem erschöpften Gesicht anscheinend an der Untehaltung interessiert und ohne das niemand sie eingeladen hätte, beschloss sie sich einzumischen.

— Ich habe es gemerkt— sagte sie. — Als er auf dem Hinweg vorbeikam waren Arm und Bein auf der linken Seite behindert, und jetzt zieht er die rechte Seite nach.—

— Genau!— Ohne viel nachzudenken, hatte Esteban ein Paar vorläufige Schlüsse gezogen: es gab zwei Bettler, identisch, aber den Zug in verschiedenen Richtungen ablaufend; oder es gab einen Bettler, aber es gab keinen festen Ablauf, sondern der Meister bewegte ihn mit Fernbedienung. Das erklärte den Wechsel des Beines und des Armes. Unsinnig? Im Moment hatte er keine bessere Idee. Julian und die Frau schienen sich zu verstehen und tauschten Meinungen aus, über das Fenomen des Bettlers spekulierend.

— Ich traue mich noch weiter zu gehen — sagte sie — Ich glaube er ist kein Mensch.—

— Sagen sie das nicht, glauben sie das wirklich?— sagte Esteban.

— Das ist sehr verückt, oder?—

— Aber mitnichten; ich habe dasselbe gefühlt, oder glaubte es zumindest.—

— Ruhe— sagte Julian. — Da kommt er. Treten wir ihm gegenüber. Was kann schon passieren?—

— Genau. Holen wir ihn aus seiner Routine heraus.— Ohne zu zögern holte Esteban einen Geldschein heraus, keine Münze, und hielt sie dem Bettler unter die Nase. Dieser hob die linke Hand und das Geld zu nehmen, wobei er seinen Dankesspruch herunterleierte.

—Gott sei mit dir und...— aber der Geldschein war verschwunden, weggezaubert mit Hilfe einer einfachen Bewegung des Handgelenks. Der Bettler zeigte keinen Ausdruck der Überraschung, wohl aber hörte man ein seltsames hohes Pfeifen, als ob ein Ventil Überdruck abgelassen hätte.

— Eine Antwort und das Geld gehört dir.—

— Was machen sie da? — fragte eine ältere Frau mit grauem Haar. — Seien sie nicht seelenlos. Geben sie ihm das Geld und lassen sie ihn in Ruhe. Provozieren sie ihn nicht. Das ist ein armer Behinderter!—

—Mich schickt niemand; ich bitte für mich — sagte der Bettler.

— Er lügt! Das ist eine Maschine die bettelt.—

— Für mich, bitte. Ich hatte einen Unfall.—

— So etwas habe ich ja noch nie gesehen!— protestierte die ältere Frau wieder, jetzt sehr verärgert. — Quälen sie ihn nicht! Man muss schon ein schönes Schwein sein um...—

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Enrique Castillo

— Er bettelt für eine andere Institution, aus Gründen die wir nicht kennen. Das ist kein Mensch!—

— Was sagen sie da? Was meinen sie damit?— Ein Mann mit der grün—gelben Uniform einer Müll—Gesellschaft schob sich in Richtung Esteban mit der Absicht ihn zu schlagen. Aber die Menge verhinderte das, ohne es zu wollen. Auf jeden Fall fingen einge Leute an, sich auf die Seite des Behinderten zu stellen, der für jeden Beobachter der anscheinend das Opfer eines Sadisten, eines Verrückten oder etwas noch schlimmeren war. Sogar Julian und die Frau mit den langen Wimpern fingen an ihn mit Misstrauen anzusehen, sich fragend ob sie nicht auf der Seite der Bösen des Films geblieben waren. War er verrückt gewesen oder hatte der Prozess jetzt in diesem Moment angefangen?

— Lassen sie ihn in Ruhe! Merken sie nicht das er schon genug an seinem Kreuz trägt? — viel eine schwangere Frau ein. — Sie wissen wohl nicht was Respekt ist.— Eine Woge des Protestes schwang sich im Chor auf, sich mit dem Geräusch des Zuges vemischend, der auf seinem Weg weiterfuhr, unbeindruckt von dem Konflikt in seinem inneren.

— Ich brauche Ihre Hilfe. Eine Münze bitte.—

— Jemand sollte den Aufseher rufen! Schrie ein grosser und dicker Mann, den Schädel blank rasiert und mit dickem schwarzen Lippenbart. — Sicherheit! Sicherheit!—

— Warten sie— sagte Esteban, eingesperrt gegen die automatischen Türen; die Wahrscheinlichkeit aus dem Zug geworfen zu werden, falls der Zug an einem Bahnsteig halten sollte, war sehr gross: der Druck Leute vergrösserte sich noch, und er, mit erhobenen Händen überzeugte niemanden; eigentlich genau das Gegenteil. — Ich habe nicht vor dem Behinderten irgendeinen Schaden zuzufügen. Hören sie doch zu: irgendwas stimmt nicht mit diesem Mann. Ich will nur herausfinden was es ist. Die hier haben es auch gemerkt.— fügte er an und zeigte auf Julian und die Frau mit der dunklen Haut.

— Ich brauche Ihre Hilfe. Eine Münze bitte.—

— Ich nicht— verteidigte sich der Junge. — Ich bin ihm nur aus Neugier gefolgt.— Die Frau schwieg sich aus; sie hatte schon alle Argumente ausgenutzt und die Müdigkeit hatte wieder Überhand über ihren Willen bekommen.

— Mich schickt niemand— beharrte eigensinnig der Bettler. Der Zug hatte in einer Station angehalten, aber die Türen öffneten sich nicht. Der Halt zog sich in die Länge und so war es nicht an den Haaren herbeigezogen, das das Sicherheitspersonal von dem Tumult gehört hatte; sie waren sich wohl am organisieren um sich in die Sache einzumischen. Die Zeit lief ab und Esteban fiel nichts effektives ein. Zum Glück hatte die Aggresivität der Leute abgenommen, aber das hiess nicht, das sie nicht auf den ersten Impuls hin von neuem losgehen könnte.

— Im ersten Waggon!— hörte Esteban jemanden schreien. — Irgendwer belästigt den Pinguin!—

Der Pinguin! So nannten sie ihn? Die verzerrte Heiterkeit, die dies in Esteban produzierte, verzog sich schnell, als er sich klar wurde das man ihn eines Missbrauchs beschuldigte, den er nicht begangen hatte. Die Leute hatten sich von ihm zurückgezogen, schauten ihn mit Ekel, Besorgnis und Unwillen an. Das war alles was er brauchte. Er riss den Rucksack Julians an sich, und mit beiden Händen an den Trageriemen packend, schlug er mit ihm gegen den Kopf des Bettlers, genau in dem Moment als dieser zum n—ten male wiederholte:

— Ich hatte einen Unfall...—

— Und du wirst noch einen haben!— schrie Esteban auf.

Der Rucksack machte einen Volltreffer und der Kopf flog davon wie ein Meteor, auf seinem Weg alle Halteschlaufen schrammend, die musikalisch aufklangen. Der Körper des Bettlers fing an sich um sich selbst zu drehen und ein Regen aus Platinen, Komponenten, Kondensatoren, Widerständen und was weiss ich noch alles ergoss sich über die Pasagiere des Zuges. Schrauben und Unterlegscheiben rollten über den Boden des Waggons, wobei sie einen absurden Fluss bildeten.

— Eine Münze, bitte.— erbittete der Körper immer noch. Esteban schloss daraus das der Tonerzeuger sich in einem Punkt nahe der Achselhöhle befinden müsste. Aber dieser Schluss ging auf eine zweite Ebene zurück, als er merkte das sich alle Pasagiere über die losen Komponenten des Bettlers stürzten, und einige noch kühnere die Arme und Beine ausrissen, um ihrer Herr zu werden. Am anderen Ende des Waggons hob der Müllarbeiter triumphierend den Kopf in die Höhe, wobei er sich seine physische Stärke zur Hilfe nahm, um andere abzuwehren. Als er sich sicher wahr, das alle seine Besitzansprüche anerkannten, schraubte er sich seinen eigenen Kopf ab, um ihn durch den des Bettlers zu ersetzen.

— Der ist letzte Generation!— schrie er euforisch. Ein brausender Applaus krönte diese Eroberung. Der grösste Teil der Passagiere hatten Esteban vergessen, den sie vor einigen Minuten noch gelüncht haben wollten, und waren jetzt damit beschäftigt die Teile, die sie erhascht hatten, zu vergleichen und zu bewerten. Von dem Bettler war nur der Rumpf mit der Toneinheit geblieben, ein Teil das merkwürdigerweise niemand hatte haben wollen. Esteban bückte sich und konnte hören, obwohl die Lautstärke jetzt schon recht tief war, das der Spruch sich immer noch wiederholte, wenn auch fast unhörbar.

— ...ich bitte für mich. Für mich...—

Zum Schluss öffneten sich doch noch die Türen und die Menge ergoss sich über den Bahnsteig.


Originaltitel: Disfraz

Übersetzt von Wolfgang Gralke, 2004.


Sergio Gaut vel Hartman

Alle, die mehr über diesen Autor wissen möchten, können seinen Eintrag in der Enciclopedia de la CF Argentina suchen.

Axxón, 2004
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